+„Der Brexit kann eine Chance sein“+

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Interview mit dem Europaabgeordneten Thomas Mann

Der Europaabgeordnete Thomas Mann spricht darüber, was sich jetzt in der EU ändern soll.

Die Europäische Union ist nach der Brexit-Entscheidung in Großbritannien in Aufruhr. „Wie soll es weitergehen?“, fragen sich die Politiker in Brüssel und in den Hauptstädten. Der hessische Europa-Abgeordnete Thomas Mann (CDU) erklärt im Interview, wie er sich die Zukunft der EU vorstellt. Er nimmt vor allem die Mitgliedsstaaten in die Pflicht. Die Fragen stellte Sven Weidlich.

Soll die EU in den Verhandlungen über den Ausstieg der Briten Härte zeigen oder Nachsicht üben?

THOMAS MANN: Wir müssen Härte zeigen. Es kann keine Mitgliedschaft light geben und keine Sonderregelungen, wenn ein Land sich entschieden hat, die EU zu verlassen. Wenn wir jetzt in die Knie gingen und sagten, „liebe Engländer, bleibt doch an Bord, vielleicht gibt es noch einen Ausweg für Euch“, dann hätten wir das Schlimmste zu befürchten, nämlich einen Nachahmungseffekt in anderen Mitgliedstaaten. Das muss verhindert werden!

Es gibt auch in anderen Mitgliedstaaten Vorbehalte gegen Brüssel. Die EU hat einen sehr schlechten Ruf. Wie kann Brüssel den verbessern?

MANN: Ich würde mir wünschen, dass die Politiker in den Mitgliedstaaten auch über Fortschritte in der europäischen Politik sprechen. Wenn Dinge erfolgreich laufen, sagen sie: „Wir haben gegen andere Länder große Erfolge erstritten.“ Wenn etwas Negatives passiert, wird gesagt: „Das sind die schrecklichen Europäer.“ Dann wird gern alles in Frage gestellt. Es stimmt: Wir haben in Europa eine Menge Bürokratie. Aber diese ist von den Mitgliedstaaten oft genau so gewollt. Denn die Länder wünschen, dass wir uns in Brüssel um den Umweltschutz, den Wettbewerb oder die Bankenkontrolle kümmern. Das Ganze muss in Paragrafen gegossen werden, das geht nicht anders. Die Europäische Kommission hat in den vergangenen Jahren hinzugelernt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat gesagt, er wolle erreichen, dass wir uns nicht mehr in jeden Kleinkram einmischen.

Aber hat Juncker das auch eingelöst?

MANN: Ja, er hat im Rahmen des Refit-Programms eine Liste von über 150 konkreten Projekten vorgelegt, welche die Kommission nicht weiter behandelt. Darunter ist eines, das mir wichtig ist, nämlich die Bodenverkehrsdienste an Flughäfen. Ich war dagegen, bei ihnen mehr Wettbewerber zuzulassen, da es die Gefahr gab, dass Billiganbieter profitieren würden. Junckers Entscheidung ist genau richtig. Es müssen die großen Themen behandelt werden, zum Beispiel die Flüchtlingsfrage. Dabei muss die Kommission Führungsqualität entwickeln, und das hat sie getan.

Aber viele Länder bremsen und wollen keine Flüchtlinge aufnehmen.

MANN: Das ist vielleicht das Gravierendste von allem: der Mangel an Solidarität. Europa scheitert aus meiner Sicht nicht daran, dass wir schwache Institutionen hätten. Europa scheitert daran, dass viele Mitgliedstaaten auf ihre nationale Souveränität bestehen und damit die europäische Einigung boykottieren. So entsteht bei den Bürgern der Eindruck, die Europäer seien weit weg von der Basis und versuchten, Dinge durchzusetzen, die mit der Lebenswirklichkeit des Einzelnen nichts zu tun haben. Dieser Eindruck ist falsch! Im Europäischen Parlament werden zum Beispiel alle Ausschuss- und Plenarsitzungen im Internet übertragen und sind daher für jeden abrufbar. Mehr Transparenz geht nicht!

Sie plädieren also für eine stärkere Integration. Aber ist das jetzt das richtige Signal, nachdem die Briten zum Ausdruck gebracht haben, dass sie keine stärkere Integration wollen, im Gegenteil?

MANN: Integration bedeutet doch, dass gemeinsam entschieden wird. Beim Thema Umweltschutz haben es die meisten Länder kapiert, aber noch können wir nicht überall durchgreifen. Auch beim Thema Banken ist Zusammenarbeit wichtig. Gemeinsam müssen wir ebenso gegen Steuervermeidung bei internationalen Unternehmen vorgehen. Die Sonderausschüsse Taxe1 und Taxe2 des Europaparlaments, denen ich angehört habe, werden in der kommenden Woche in Straßburg ihre Ergebnisse vorlegen. Einzelne Mitgliedstaaten könnten das nicht leisten. Dafür brauchen wir Europa.

Können Sie weitere Beispiele nennen?

MANN: Verkehrsprojekte oder die Belange von Arbeitnehmern. Die Bürger dürfen nicht zu kurz kommen. Europa hat beispielsweise sechs Milliarden Euro im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt. Auch die Armutsbekämpfung wird durch europäische Projekte gefördert.

Wo sollte sich Europa nicht mehr einmischen?

MANN: Ich halte das Ansinnen der Kommission für unerträglich, dass der deutsche Meisterbrief in Frage gestellt wird, weil man einheitliche europäische Regeln schaffen will. Der Meisterbrief muss aus Gründen der Qualität unbedingt Bestand haben. Die Kommission wollte auch eine Neuregelung bei den Betriebsrenten durchsetzen, um die Mobilität in Europa zu fördern. Allein in Deutschland hat das Betriebsrenten-System ein Volumen von mehr als 450 Milliarden Euro. Bei den Beratungen im Europäischen Parlament habe ich den Kolleginnen und Kollegen eine Reihe von Argumenten geliefert und war erfolgreich. Wir müssen generell stärker herausarbeiten, welche Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten bleiben sollen. Darüber wird schon lange diskutiert, aber es gibt noch keinen Konsens.

Was muss Europa darüber hinaus tun, um wieder positiv wahrgenommen zu werden? Seit einer ganzen Weile jagt ja eine Krise die nächste.

MANN: Wir brauchen mehr emotional besetzte Themen. Ein aktuelles Beispiel: Wir wollen in Europa eine gemeinsame Küstenwache schaffen. Manche sagen, das sei eine Bagatelle, aber das stimmt nicht. Wir müssen erreichen, dass unsere Außengrenzen besser geschützt werden. Europäische Institutionen müssen in den Ländern aktiv werden können, wenn es Defizite gibt. Auf diese Art könnten wir den Bürgern klarmachen: „Wir haben verstanden. Wir sorgen dafür, dass wir den Schengen-Raum erhalten.“ Außerdem braucht Europa Gesichter. Wir benötigen Politiker, die Zeichen setzen wie zum Beispiel Angela Merkel heute und Helmut Kohl oder Helmut Schmidt früher. Natürlich muss man sich darum kümmern, dass bei allen Entscheidungen in Berlin auch die kleineren Länder mitgenommen werden. Es darf nicht heißen: „Das ist das Diktat der Großen.“

Wie bekommt man es hin, dass die EU-Länder wieder solidarisch handeln, anstatt egoistisch nur auf die eigenen Interessen zu schauen?

MANN: Ich denke, viele merken jetzt, was der Brexit wirklich bedeutet. In Großbritannien gibt es zurzeit ein böses Erwachen. Der Brexit kann für uns auch eine Chance sein, darüber nachzudenken, ob es nicht einen echten europäischen Mehrwert gibt. Und ob es nicht wichtig ist, ihn zu verteidigen.

Was glauben Sie, wo wird die EU in fünf Jahren stehen?

MANN: Ein Schock kann etwas Positives sein. Wenn wir aus dem Brexit das Richtige lernen, bekommen wir auf jeden Fall ein gestärktes Europa. Dazu gehört eine klarere Aufteilung, was die notwendigen Aufgaben auf der europäischen Ebene und auf den nationalen Ebenen sind. Staats- und Regierungschefs werden nicht mehr so oft einstimmig entscheiden, Mehrheitsentscheidungen an der Tagesordnung sein. Ansonsten kommen wir nicht voran.

Artikel vom 01.07.2016, 03:00 Uhr (letzte Änderung 02.07.2016, 02:51 Uhr)

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